Artikel in Spiegel und Saarbrücker Zeitung

Hallo

Im Magazin ‹Der Spiegel› (1) vom 9. Juli 2022 schrieb Klaus Wiegrefe unter dem Titel «Der Plan des Generals», Frankreich hätte nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu 800’000 Menschen deportieren wollen. Die ‹Saarbrücker Zeitung› doppelte zwei Tage später in der Ausgabe vom 11. Juli 2022 mit einem halbseitigen Bericht nach. Titel «Als Frankreich die Saarländer vertreiben wollte».

Ich denke, viele von Euch haben diese reisserischen Schlagzeilen gesehen und vielleicht auch die entsprechenden Artikel. Für diejenigen, welche die Artikel nicht gelesen haben, ein sehr kurzer Abriss. «Hätte man Frankreich nach dem Krieg machen lassen, dann wäre das Saarland heute ein Teil Frankreichs» — eine wahrhaft grauenvolle Vorstellung, nicht wahr? In der HeuteShow könnte man sich nicht über die territoriale Kleinheit des Saarlandes amüsieren [Link]. «Und die Franzosen hätten darüber hinaus die Saarländer aus dem Saarland vertrieben!» Ein Saarland ohne Saarländer! Das ist tatsächlich eine grauenvolle Vorstellung. Ich mag sie nämlich, die Saarländer. Vielleicht nicht alle, aber doch sehr viele. Zum Schluss: «Das diese Horrorszenarien nicht eintrafen, verdanken die Saarländer den Briten und US-Amerikanern» — wollen uns die Autoren glauben machen. Zwischen den Zeilen scheint noch durch: «Weil das, was die Franzosen damals planten, so entsetzlich perfide war, geschah es ihnen nur recht, dass die Saarländer am 23. Oktober 1955 das ein Jahr zuvor zwischen Frankreich und der BRD (also ohne die Saarländer) abgeschlossene Europäische Saarstatut ablehnten.» Worauf, wie wir wissen, das Saarland am 1. Januar 1957 dem Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes beitrat.

Stimmt das, was uns da in den Medien frisch aufgekocht serviert wurde? Beide Berichte basieren auf der Studie «Die unvollendete Annexion. Frankreich und die Saar 1943 bis 1947». (2) Diese Studie verfasste der aus dem Saarland stammende Historiker Prof. em. Wilfried Loth. Ich habe sie für euch gelesen und analysiert.

Ich fasse mich kurz. Ja, Frankreich plante seit Oktober 1944, das Saarland zu annektieren. Wäre dies geschehen, wäre das Saarland heute ein Teil der französischen Republik. Die Annexionspläne wurden in den folgenden zwei Jahren immer wieder modifiziert und Ende 1946 endgültig fallen gelassen. Und ja, in französischen Regierungskreisen wurde Ende 1944/Anfang 1945 ernsthaft überlegt, die zum grössten Teil ohnehin evakuierte Bevölkerung des Saargebietes (3) nicht in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Von den wenigen verbliebenen Einwohnern sollten die Nazis sowie Frankreich gegenüber feindlich eingestellte Personen ausgewiesen oder nach Württemberg, Baden und die französischen Kolonien umgesiedelt werden.

Ordnen wir diese beiden Fakten, die Annexionspläne wie die Umsiedlungspläne französischer Regierungskreise, historisch ein. Wir stellen fest, dass die Planer voll im Trend lagen. Sämtliche Alliierte waren sich einig, dass massenhafte Umsiedlung von Deutschen (bei den Sowjets auch Polen) eine friedensfördernde Massnahme sei. Warum? Die Alliierten beriefen sich auf den Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland. Trotz aller zum Teil unmenschlichen Härten, welche die Vertreibungen mit sich brachten, schätzten beide Regierungen die ethnische Homogenisierung ihrer jeweiligen Staaten als positiv und stabilisierend ein. Auch war es erst sieben Jahre her, dass Hitler im Hinblick auf seine Eroberungspläne gegenüber der Weltgemeinschaft den Schutz deutscher Minderheiten in der Tschechoslowakei und in Polen als Vorwand und Druckmittel verwendet hatte. Dem wollte man von vorne herein einen Riegel schieben.

Die Umsetzung der französischen Pläne setzte voraus, dass französische Truppen als Erste das Gebiet an der Saar besetzen würden. Dies war bekanntlich nicht der Fall. Truppen der 7. US-Armee besetzten am 20./21. März 1945 das Saargebiet und errichteten dort zügig eine funktionierende Zivilverwaltung. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 liess die amerikanische Militärverwaltung die evakuierte saarländische Bevölkerung in ihre Heimat zurückkehren. Dies liess den Plan eines Saarlandes ohne Saarländer schon einmal Makulatur werden.

Am 10. Juli 1945 übergab die US-amerikanische Militärverwaltung das Gebiet an der Saar als Teil der französischen Besatzungszone (Zone d’occupation française en Allemagne) an französische Truppen. Nun gingen französische Planer davon aus, dass etwa 100’000-150’000 feindselige Elemente sowie Nazis ausgewiesen werden müssten, die restliche Bevölkerung liesse sich bei guter Pflege leicht assimilieren. Général Charles de Gaulle, der Chef der provisorischen Regierung des befreiten Frankreich hielt nichts von Ausweisungen. Er setzte mehr auf Assimilation. Doch seine Vision einer französischen Rheingrenze liess ihn den einzigen Zeitpunkt, die Region an der Saar mit Zustimmung aller Alliierten zu annektieren, verpassen. Nach dem Rücktritt De Gaulles im Januar 1946 folgten innerhalb von 12 Monaten drei eher schwache, von innen- wie aussenpolitischen Krisen gebeutelte Regierungen. Französische Politiker verfolgten in ihrer Deutschlandpolitik das Ziel, den übermächtigen Nachbarn im Osten möglichst dezentral zu gestalten. Verständlich, nach vier Überfällen in 70 Jahren wollte man sich endgültig absichern und wohl auch eine Vorrangstellung in Europa erlangen. Sie stemmten sich gegen viele Vorschläge der anderen Alliierten und versuchten — wie schon vor dem 1. und 2. Weltkrieg — Russland resp. die Sowjetunion auf ihre Seite zu ziehen. Das kam bei Briten und US-Amerikanern nicht gut an. Diese standen vor einem riesigen logistischen Problem, wo Engstirnigkeit und verschachtelte Zuständigkeiten nur Bremsschuhe waren. Im Sommer 1946 verständigten sich Briten und US-Amerikaner auf eine gemeinsame Verwaltung ihrer Besatzungszonen (Bi-Zone). Der aufkeimende Ost-West-Konflikt liess eine Zerstückelung Deutschlands obsolet werden. Der Zeitpunkt für eine Annexion des Saarlandes war aufgrund Inkompetenz französischer Politiker ungenutzt verstrichen. Von Ausweisungen und Vertreibungen im grossen Stil sprach niemand mehr. Am 18. Januar 1947 verabschiedete die erste Regierung der IV. Republik ein Massnahmenpaket zur Saar-Frage und verfolgte dann konsequent den Aufbau eines demokratischen und autonomen Saar-Staates unter französischer Hegemonie.

Fazit: Nicht den Briten und US-Amerikanern ist es zu verdanken, dass das Saarland nicht in Frankreich aufgegangen ist. Es war das schlechte Timing inkompetent agierender französischer Politiker.

Die Studie von Wilfried Loth wirft auch ein differenziertes Licht auf die Person von Gilbert Grandval. Grandval wurde von De Gaulle am 31. August 1945 als Nachfolger von Général Molière zum Militärgouverneur an der Saar ernannt. Geschickt formte Grandval das Gebiet an der Saar territorial wie politisch zu einem wirtschaftlich eigenständigen Saarland. Dabei musste er häufig Widerstände sowohl in Paris wie auch in Baden-Baden, dem Sitz der französischen Militärverwaltung für Deutschland, überwinden. Seinem Wirken ist es massgeblich zu verdanken, dass an der Saar ein demokratisch legitimierter, von der Bevölkerung wie den Parteien getragener, halbautonomer Saar-Staat (État Sarrois) entstand.

Weshalb 1955 der breite politische und gesellschaftliche Konsens im Saarland zerbrach ist eine andere Geschichte. Es war sicherlich keine Retourkutsche für Frankreich. Wilfried Loth schlussfolgert in seiner Studie: Die Ablehnung des Europäischen Saarstatuts 1955 zeigt, dass die von Frankreich betriebene Demokratisierung der Saarländer «bei allen Unzulänglichkeiten im Einzelnen» erfolgreich war.

Bis dann

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Anmerkungen

(1) ‹Der Spiegel› Nr. 28, 9. Juli 2022, S. 50 (Link, kostenpflichtig)

(2) Loth, Wilfried: «Die unvollendete Annexion. Frankreich und die Saar 1943 bis 1947»; in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Bd. 70, 3/2022, S. 513-548 (Link, bis Ende September 2022 frei zugänglich)

(3) Die evakuierte Rote Zone entlang der Grenze umfasste unter anderem die grossen Industrieorte Dillingen, Völklingen sowie Saarbrücken.

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