Belege (III) – Entschlüsselung eines alten Belegs

Hallo

Diesen Beitrag widme ich meiner Frau, die ich über alles liebe.

    • Ohne meine Frau wäre ich heute nicht derjenige, der ich bin.
    • Ohne meine Frau wäre mein Leben sehr viel ärmer.
    • Ohne meine Frau, ihr Verständnis und ihre Unterstützung würdet ihr diesen Beitrag gar nicht lesen können. Der SAARPHILA-BLOG wäre wohl kaum veröffentlicht worden.

Meine Frau wird morgen Ihren Geburtstag feiern – den wievielten verrate ich selbstverständlich nicht -und ich werde alles daransetzen, dass sie diesen – ihren – Tag geniessen wird.

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In diesem Beitrag möchte ich euch einen – wie der Beitragstitel schon verrät – alten Beleg vorstellen. Es handelt sich um einen Bedarfsbrief aus dem Jahr 1859, der von Rossla nach dem ca. 70 km östlich gelegenen Halle an der Saale gelaufen ist. In diesem Brief geht es um einen Todesfall in der 1844 gegründeten, preussischen Provinzial-Irrenanstalt Halle-Nietleben in Halle an der Saale, die den gräflich Stolberg-Rosslaischen Polizei-Rath veranlasst, zwecks ordnungsgemässer Abwicklung der Erbschaftsangelegenheit beim Direktor der Provinzial-Irrenanstalt brieflich ein Verzeichnis der persönlichen Hinterlassenschaften der Verblichenen anzufordern.

Dieser Beleg ist bislang der älteste meiner Sammlung und war aufgrund verschiedener Umstände – die ich im weiteren Verlauf des Beitrags aufführen werde – nicht einfach zu entschlüsseln. Mein tiefempfundener Dank geht an zwei liebe Mitstreiter aus einem Briefmarken-Forum auf Facebook. Sie halfen mir bei der Transkription aus der Sütterlin-Schrift sowie bei der Zuordnung eines – mir völlig unbekannten – Stempels auf der Siegelseite des Briefes. Ohne diese Hilfe würde ich bei dem Beleg immer noch „wie ein dummer Ochs vorm Berg stehen“. Eine Mitstreiterin möchte nicht namentlich erwähnt werden. Doch Stephan Jürgens kann ich meinen Dank direkt aussprechen.

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Weshalb veröffentliche ich diesen Beitrag, der – seien wir ehrlich – nicht viel mir den Briefmarkenausgaben Wappen und Dichter oder Berufe und Sehenswürdigkeiten an der Saar zu tun hat? Ich fand die komplexe Geschichte der Entschlüsselung dieses Beleges sehr lehrreich, denn diese beinhaltet drei wichtige Erkenntnisse:

    • nicht bei der ersten Unstimmigkeit aufgeben; es gibt auch für vorderhand Unmögliches eine Erklärung (der Beleg lag bei mir schon lange auf dem Pult)
    • wenn man bei einer Recherche ansteht … Unterstützung in Anspruch nehmen (Einzelkämpfer sterben auch einsam)
    • sich soweit möglich in die Entstehungszeit des Beleges hineinversetzen und nicht alles aus unserer heutigen Sicht beurteilen

Hm … bislang keine Abbildung? Ich vergass, zu erwähnen, dass ich euch in diesem Beitrag bloss vier Abbildungen zeigen werde.

Hier die erste Abbildung.

So habe ich den Beleg aus einer 50 Eurocent Wühlkiste gegriffen. Eine sehr saubere, klare Handschrift, die ich problemlos entziffern konnte.

„An den königlichen Direktor Herrn Geheimen Medicinal=Rath Dr. Dammerow, Ritter [Pi Pi = Auslassungen für die komplette Titelaufzählung] Hochwohlgeboren … zu Halle a/S. … He[rrschaftliche] Polizei=Sachen“

Geht es euch gleich wie mir? Ich las Polizei-Sachen und meine Neugier war geweckt. Diebstahl, Raub, Mord, Totschlag? Was würde ich finden? Dazu noch eine wunderbar lesbare Abstempelung aus Rossla vom 19. Dezember in der Stunde zwischen 5 und 6 Uhr. Ich hatte zwar – als ich da vor der Wühlkiste stand – keinen blassen Schimmer, wo Rossla lag, aber sowas findet man in Zeiten von Google Maps und Maps.me ja rasch heraus. Noch weniger klar war mir, in welchem Jahr der Beleg von Rossla nach Halle gelaufen war, denn der Stempel auf dem Umschlag wies zwar ein Datum, jedoch keine Jahreszahl auf.

Doch zuerst habe ich den Beleg einmal umgedreht. Das war doch mal ein schöner Anblick. Ein wachsgesiegelter Brief.

Das Siegel war zwar erbrochen, aber äusserst detailreich erhalten. Da kenne ich ganz andere Erhaltungsarten. Ich war zwar hinsichtlich Ortschaft und Laufjahr nicht klüger geworden, aber meine Hand ging in den Hosensack … 50 Eurocent … der Beleg wechselte seinen Besitzer. Ein Bauchentscheid.

Der Beleg war kompliziert gefaltet und landete erst einmal in der Ablage auf meinem Pult. Immer wieder einmal in die Hand genommen, beschäftigten mich die Fragen: „Wie kann ich den Beleg auseinanderfalten, ohne diesen übermässig weiter zu beschädigen?“ „Wie kann ich verhindern, dass das Siegel komplett zerbricht?“

Ich bezähmte meine Neugier betreffend des Inhalts und fertigte erst einmal hochauflösende Scans von Adress- und Siegelseite an. Dokumentiert ist dokumentiert! Danach landete der Beleg erst einmal wieder in der Ablage. Abgehakt! „Weshalb hatte ich den Beleg nochmal erstanden? Was hat mich damals getrieben?“ Der Sommer war schön und da waren Tausend andere Dinge, die plötzlich wichtiger waren. Für einen angefressenen Philatelisten völlig unverständlich – das ist mir bewusst.

Vor einigen Tagen habe ich realisiert, dass ich bei diesem Beleg nie weiterkommen würde, wenn ich diesen nicht öffnete und den Inhalt dokumentierte. Gesagt, getan! Ich habe den gefalteten Brief vorsichtig auseinandergenommen … et voilà:

Ich war platt! Eine gestochene Handschrift auf der Adress-Seite und hier …? Ausser dem Titel, den Ziffern und dem Datum „December 1859“ konnte ich nicht viel entziffern. Nach einem zweiten Blick war mir klar: „Ich brauche Unterstützung!“ Unterstützung nicht allein bei der Transkription. Nein, auch der Stempel auf der Siegelseite des Beleges war mir völlig fremd. Ein Eingangsstempel konnte „Ausg“ wohl nicht sein. Ein zusätzlicher Stempel aus Rossla? Wozu? Der war ja – wie wir es heute immer noch kennen – auf der Adressseite aufgebracht worden.

Würde mich der Inhalt bei der Entschlüsselung des Beleges weiterbringen? Hier musste wegen der Handschrift (s.o.) eine Spezialistin herangezogen werden. Mir wurde sofort klar, an wen ich mich wenden würde.  An einen tollen und hilfsbereiten Menschen, bei welchem ich mich sehr glücklich schätze, diesen in meinem Bekanntenkreis zu wissen.

Innerhalb weniger Stunden lag die Transkription auf meinem Pult, besser gesagt in meinem Mac:

„Verzeichniss der von der verstorbenen geisteskranken Frie=derike Werther hinterlegtenen Effecten.

    1. ein Obersack
    2. ein wattirter Untersack
    3. ein weisser Untersack
    4. eine Mantille
    5. ein Paar Stiefelchen
    6. ein Umlegetuch
    7. ein Paar Hausschuhe und
    8. ein Kragen

P.I. Anstalt bei Halle den 22. December 1859″

Das war ein toller Anfang. Was mir jedoch Kopfschmerzen bereitete, war die Datierung des „Verzeichniss“ zu Halle an der Saale am 22. December 1859.

Das ergab für mich gar keinen Sinn! Ein Schreiben, dass am 19. Dezember in Rossla abgeschlagen nach Halle an der Saale gesendet wird, enthält eine Aufstellung der Habseligkeiten einer Verstorbenen, welche am 22. Dezember in Halle an der Saale angefertigt wurde. Die Kausalität war auf den Kopf gestellt.

Ich wusste nicht mehr weiter. Da war der Stempel auf der Siegelseite des Briefes, der mir nichts sagte. Ich habe einen Scan des Stempels in dem Facebook-Forum Whatsbriefmarken.de eingestellt, mit der Bitte um Unterstützung bei der Identifikation. Innerhalb kurzer Zeit die Antwort von Stephan Jürgens. Zitat:

AUSG. ist die Abkz. für AUSGABE, dies ist ein sogenannter „Ausgabestempel“, gibt es in vielen preussischen (und später reichsdeutschen) Städten, in denen es mehr als einen Bestellgang der Briefträger gab. Sie wurden anstelle der Ortstagesstempel verwendet, die normalerweise die Ankunft des Briefes „anzeigen“. Die N 1 gibt den Bestellgang an.

In diesem Moment machte es bei mir nicht einmal, sondern gleich zweimal „klick“. Einerseits wusste ich nun, dass der Beleg tatsächlich von Rossla nach dem preussischen Halle an der Saale gelaufen war und dort auch mit dem Bestellgang N 1 ausgeliefert worden war. Andererseits brachte mich die Information dazu, den Gesamtbeleg neu zu begutachten.

Als erstes versuchte ich den Adressaten zu verifizieren. Das ging erstaunlich rasch. Adressat war der Geheime Medizinalrat Prof. Dr. med. Heinrich Philipp August Damerow (28. Dezember 1798-22. September 1866), seit der Eröffnung der Provinzial-Irrenanstalt Halle-Nietleben am 1. November 1844 bis zu seinem Tod Direktor und Chefarzt dieser Institution.

Nun ging es an die Identifikation des Absenders. Das ging nur über das Siegel und den Einsatz des Mikroskops sowie Streiflicht. Das Ergebnis:

Die vollständige Umschrift lautet: Gräf. Stolberg.Rosslaischer Polizei-Rath

Das Siegel enthält auch das Wappen derer von Stolberg-Rossla

Nun ging es darum, herauszufinden, weshalb die Daten inkongruent waren. Einen entscheidenden Hinweis lieferte mir meine sehr geschätzte Kollegin mit dem Hinweis, dass das Verzeichnis von einem Oeconom unterzeichnet sei. Ein Oeconom oder Factotum war ein Bewirtschafter, Hauswart oder neudeutsch Manager. In diesem Fall der Manager der Provinzial-Irrenanstalt.

Der zweite Hinweis war mir zuvor schon aufgefallen, aber nicht mehr bewusst. Die Handschriften auf der Vorderseite des Schreibens und auf der Innenseite des Papiers unterschieden sich auffällig voneinander. Die Schrift auf der Vorderseite war die gestochen klare Schrift eines gebildeten Mannes, der seine Schreiben so sorgfältig siegelte, dass das Siegel heute noch mustergültig erhalten ist. Die Handschrift auf der Innenseite des Schreibens ist dagegen eher fahrig und schwer lesbar – daher benötigte und erhielt ich ja Unterstützung. Hier hatten zwei verschiedene Personen geschrieben.

Des Rätsels Lösung:

In der königlichen Provinzial-Irrenanstalt in Halle-Nietleben verstirbt die Insassin Friederike Werther. Der Todesfall wird an ihren letzten Wohnsitz, resp. ihren Geburtsort, Rossla gemeldet. In Rossla verfasst der zuständige Polizei-Rath ein Schreiben in „herrschaftlichen Polizei=Sachen“ an den Direktor der königlichen Provinzial-Irrenanstalt in Halle-Nietleben, Prof. Dr. med. Damerow. Der Grund? Er benötigt ein Verzeichnis über die Hinterlassenschaft der Verblichenen, um deren Nachlass ordnungsgemäss zu regeln. Dieses Schreiben an Prof. Dr. med. Damerow muss im Umschlag gesteckt haben, ist uns jedoch nicht überliefert. Prof. Dr. med. Damerow in seiner Funktion als Anstalts-Direktor beauftragt den „Oeconomen“ der Anstalt mit der Erstellung des Verzeichnisses. Dieser – sparsam wie er ist – verwendet den Umschlag der Anforderung des Polizei-Raths, das Schreiben selbst landet ja in den Akten, zur Erstellung des nicht sehr umfangreichen Verzeichnisses. Wie das Verzeichnis der Hinterlassenschaft der verstorbenen Friederike Werther schliesslich nach Rossla gelangte und von dort schlussendlich in meine Hände gekommen ist … um diese Fragen zu beantworten, braucht es mehr Fakten als der Beleg beinhaltet.

Bis dann

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Zum Tod von Prof. Dr. Reinhard Krüger (1951-2018)

Hallo

Der frühe Tod eines aufrechten und aufrichtigen Gegners kann einen genauso betroffen machen, wie der Tod eines geschätzten Freundes. Es braucht vielleicht etwas länger, bis man den Verlust bemerkt oder begreift.

Ich hatte mit Reinhard Krüger nicht immer das „Heu auf demselben Boden“, wie wir Schweizer es ausdrücken, sobald wir Differenzen mit einem anderen Menschen haben.

Es gab in den letzten Jahren philatelistische Themen oder historische Deutungen, da lagen Welten zwischen uns, und dann gab es wiederum Themen, da habe ich ihm vollumfänglich zugestimmt. Nicht stilistisch, aber inhaltlich.

Die Palette an philatelistischen Themen, zu denen Reinhard Krüger schrieb, war umfangreich. Wie sagte er nach seiner Emeritierung 2016? „Endlich Zeit zu schreiben!“ Das meinte und nahm er wörtlich!

Seine Stimme ist nun für immer verstummt. Sein Schreibstift und sein Computer bleiben unberührt. Die Artikel, die er uns publikationsbereit hinterliess, erscheinen mit (†) hinter seinem Namen. Was bleibt, sind seine aufrechten Bemühungen um die engere Verzahnung von Geschichtswissenschaft und Philatelie sowie die Propagierung der vielfältigen Facetten der Social Philately.

Ich werde Reinhard Krüger und seine Beiträge zur Philatelie vermissen, denn er selbst wie seine Publikationen zu diesem Thema waren für mich trotz aller Diskrepanz im Denken immer eines: intellektuelle Herausforderungen.

Bis dann

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Belege (I) – Social Philately

Hallo

Gestern habe ich den Beitrag über meinen Besuch auf der Lanaphil veröffentlicht.

Heute möchte ich euch zwei interessante Belege vorstellen, die ich an der Börse für je 50 Cent erworben habe.

Der erste Beleg ist eine Ansichtskarte, die auf der Rückseite das Konstanzer Münster um 1904 zeigt. Gelaufen ist der mit 5 Reichspfennig (DR Germania Grün von 1902) portogerecht freigemachte Beleg am 23. September 1905 von Konstanz nach Regensburg, wo er am 24. September eintraf.

Adressat ist der „Hochgeboren Herrn Grafen Hugo von Walderdorff“. Als Adresse ist allein die Hausbezeichnung angegeben: Weisse Lilien. Das Stadthaus des Grafen. Der Text kurz und knapp: „Ergebenste Grüsse u. Empfehlungen vom schönen Bodensee!“

Graf Hugo von Walderdorff (1828-1918) ist der bekannte Heimathistoriker und langjährige Vorsitzende des Regensburger Historischen Verein.

Hugo von Walderdorff (©Fotosammlung Museum Regensburg)

Der Graf entstammte einem hochadligen bayrischen Geschlecht und war seit 1856 mit der knapp ein Jahr älteren Amalie Gräfin Podsatzky-Liechtenstein verheiratet. Gräfin Amalie ist die Adressatin des zweiten Beleges.

Dieser Beleg ist ebenfalls eine Ansichtskarte, die auf der Rückseite den Thumsee etwa drei Kilometer westlich von Bad Reichenhall zeigt. Gelaufen ist der mit 5 Pfennig (Bayern Wappen Grün von 1890) portogerecht freigemachte Beleg am 7. Juni 1906 von Bad Reichenhall nach Wutzlhofen resp. nach Schloss Hauzenstein, einem der Stammsitze derer von Walderdorff, wo er am 8. Juni eintraf.

Der Text ist diesmal nicht kurz und knapp, sondern die Absenderin nützt den verfügbaren Platz aus und versetzt die Grusszeile sogar auf die Rückseite der Ansichtskarte.

Konnten wir beim ersten Beleg den Absender nicht eruieren, ist dies beim zweiten Beleg einfach. Es handelt sich um Freiin Marie von Pfetten aus oberbayrischem Uradel. Die Familie war bis 1803 mit dem Amt des Erbhofschenken des Hochstifts Regensburg betraut. Marie von Pfetten nahm es mit der Rechtschreibung nicht so genau. Aus Gräfin Amalie wurde Amelie, aus Wutzlhofen wurde Wutzelhofen. Das Adelsprädikat „von“ lässt Sie beim Adressaten komplett aus, was – so habe ich mir sagen lassen – in bayrischen Adelshäusern jedoch nichts Ungewöhnliches sei.

Interessant ist noch, dass beide Ansichtskarten aus demselben Atelier von Dr. Trenkler Co. in Leipzig stammen und jeweils aktuelle Sujets zeigen.

Bis bald

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